Beiträge von Wieland

    Der Philosoph und Dichter Friedrich Nietzsche (1844-1900)
    litt bekanntlich möglicherweise unter dem Asperger-Syndrom, was einiges an
    seinen zutiefst tragischen Lebensumständen erklären würde.


    Um allfällige Missverständnisse zu vermeiden, muss gesagt werden, dass Nietzsche
    definitiv KEIN „Vordenker“ der Nazis war, welche sein Werk nach seinem Tode in
    Wahrheit missbrauchten und pervertierten! Im Gegenteil, Nietzsches Denken und
    Schaffen strebt ja eben GEGEN jegliche Form von Totalitarismus! Und schon zu seinen
    Lebzeiten spottete er verächtlich über den damals langsam aufkeimenden deutschen
    Nationalismus!


    Ein anderes weitverbreitetes Missverständnis zu Nietzsche ist der Glaube, dass
    er ein „Atheist“ oder zumindest ein atheistischer Vordenker gewesen sei. Nichts
    liegt ferner! Man darf keinesfalls einzelne Zitate von Nietzsche aus dem
    Zusammenhang reissen! Sämtliche Experten, die ich kenne, die das GESAMTWERK
    Nietzsches studiert haben, bestätigen mir unabhängig voneinander, dass er KEIN
    Atheist war, sondern sich in einigen Schriften sogar über die Atheisten lustig
    gemacht hat! Manche Kenner wagen sogar die These aufzustellen, dass Nietzsche vielmehr
    ein verkappter Gottessucher war.


    Ich selber bin kein allzu grosser Nietzsche-Kenner und schon gar kein „Anhänger“.
    Mich berührt einfach sein ausserordentlich bedauernswertes, tragisches
    Lebensschicksal, vor allem auch vor dem Hintergrunde seines möglichen Autismus‘.
    Und ich anerkenne, dass wohl auch dieser „Philosoph mit dem Hammer“, wie er sich
    selbst bezeichnete, seine Daseinsberechtigung hat, um die Schwachstellen in
    anderen Philosophien, geistigen Lehren sowie in der zivilisierten Gesellschaft,
    die sich im Laufe der Jahrhunderte angehäuft haben, aufzuzeigen. Echte Alternativen
    zeigte Nietzsche aber NICHT auf. Und worin seine „Umwertung aller Werte“ konkret
    bestehen soll, wusste er wohl selber nicht genau.



    Vor allem das nachfolgende Gedicht von Friedrich Wilhelm Nietzsche berührt mich
    schon seit vielen Jahren zutiefst. Genau in dieser Weise kann sich meines
    Erachtens nur ein echter Asperger-Autist ausdrücken! Ich stelle jetzt einmal
    die Vermutung auf, dass die meisten AS-Leidensgenossinnen und
    AS-Leidensgenossen diese Verse ebenfalls zutiefst nachfühlen und verstehen
    können. Ja, ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass das hier reinster
    Asperger-Autismus IST! Und für die werten NTs unter den Lesern offenbart sich
    wieder einmal die Möglichkeit, zu versuchen nachzufühlen, wie jemand, der unfreiwillig
    mit dem Asperger-Syndrom geboren worden ist, tatsächlich denkt, fühlt und was
    er ein Leben lang durchmachen muss.


    Dieses Gedicht, von mir ungekürzt, stammt aus Nietzsches Gedicht-Zyklus „Dionysos-Dithyramben“.
    Es ist unzweifelhaft von der Bergwelt der Schweizer Alpen im Oberengadin inspiriert,
    wo Nietzsche phasenweise in Sils-Maria gelebt hatte. In diesem Gedicht steht
    der vermeintlich „Weise“ (ironisch gemeint), der sich selbst Zarathustra nennt
    (nach Nietzsches bekanntestem Werk „Also sprach Zarathustra“), wie eine einsame
    Tanne auf einem schroffen Felsen über einem jähen Abgrund. Er reflektiert über
    sein gescheitertes Dasein und fühlt sich scheinbar durch sich selbst gefesselt.


    Ich möchte darum bitten, jedes einzelne Wort und jede einzelne Silbe bis zum
    Schluss sich genussvoll auf der Zunge zergehen zu lassen. Nach jeder Zeile und
    vor allem nach jedem Gedankenstrich ist eine kleine Pause einzulegen. Die
    kursiv geschriebenen Wörter, welche auch im Original kursiv gedruckt sind,
    müssen besonders stark, kraftvoll und zugleich langsam betont werden.


    Viel Vergnügen mit diesem kleinen Einblick in die geheime Gefühlswelt eines
    mutmasslichen Asperger-Leidensgenossen:



    Zwischen Raubvögeln


    Wer hier hinab will,
    wie schnell
    schluckt den die Tiefe!
    – Aber du, Zarathustra,
    liebst den Abgrund noch,
    tust der Tanne es gleich? –


    Die schlägt Wurzeln, wo
    der Fels selbst schaudernd
    zur Tiefe blickt –,
    die zögert an Abgründen,
    wo alles rings
    hinunter will:
    zwischen der Ungeduld
    wilden Gerölls, stürzenden Bachs
    geduldig duldend, hart, schweigsam,
    einsam...


    Einsam!
    Wer wagte es auch,
    hier zu Gast zu sein,
    dir Gast zu sein? ...


    Ein Raubvogel vielleicht,
    der hängt sich wohl
    dem standhaften Dulder
    schadenfroh ins Haar,
    mit irrem Gelächter,
    einem Raubvogel-Gelächter...


    Wozu so standhaft?
    – höhnt er grausam:
    man muss Flügel haben,
    wenn man den Abgrund liebt...
    man muss nicht hängen bleiben,
    wie du, Gehängter! –


    O Zarathustra,
    grausamster Nimrod!
    Jüngst Jäger noch Gottes,
    das Fangnetz aller Tugend,
    der Pfeil des Bösen! –
    Jetzt –
    von dir selbst erjagt,
    deine eigene Beute,
    in dich selber eingebohrt ...


    Jetzt –
    einsam mit dir,
    zwiesam im eignen Wissen,
    zwischen hundert Spiegeln
    vor dir selber falsch,
    zwischen hundert Erinnerungen
    ungewiss,
    an jeder Wunde müd,
    an jedem Froste kalt,
    in eignen Stricken gewürgt,
    Selbstkenner!
    Selbsthenker!


    Was bandest du dich
    mit dem Strick deiner Weisheit?
    Was locktest du dich
    ins Paradies der alten Schlange?
    Was schlichst du dich ein
    in dich – in dich? ...


    Ein Kranker nun,
    der an Schlangengift krank ist;
    ein Gefangner nun,
    der das härteste Los zog:
    im eignen Schachte
    gebückt arbeitend,
    in dich selber eingehöhlt,
    dich selber angrabend,
    unbehilflich,
    steif,
    ein Leichnam –,
    von hundert Lasten übertürmt,
    von dir überlastet,
    ein Wissender!
    ein Selbsterkenner!
    der weise Zarathustra! ...


    Du suchtest die schwerste Last:
    da fandest du dich –,
    du wirfst dich nicht ab von dir...


    Lauernd,
    kauernd,
    Einer, der schon nicht mehr aufrecht steht!
    Du verwächst mir noch mit deinem Grabe,
    verwachsener Geist! ...


    Und jüngst noch so stolz,
    auf allen Stelzen deines Stolzes!
    Jüngst noch der Einsiedler ohne Gott,
    der Zweisiedler mit dem Teufel,
    der scharlachne Prinz jedes Übermuts! ...


    Jetzt –
    zwischen zwei Nichtse
    eingekrümmt,
    ein Fragezeichen,
    ein müdes Rätsel –
    ein Rätsel für Raubvögel...


    – sie werden dich schon »lösen«,
    sie hungern schon nach deiner »Lösung«,
    sie flattern schon um dich, ihr Rätsel,
    um dich, Gehenkter! ...
    O Zarathustra! ...
    Selbstkenner! ...
    Selbsthenker! ...

    Mir hat diese Einführung zur Philosophie von Leibniz gefallen, zumal ich mich damit bisher noch nie näher auseinandergesetzt habe. Es hätte allerdings wohl den Rahmen gesprengt, wenn noch auf die Monaden-Lehre, das eigentlich Kerngebiet von Leibniz, eingegangen worden wäre.

    Sehr schöner Thread!


    Ja, ich übe mich seit Jahren in Meditation und Kontemplation. Als praktizierender Anhänger der spätantiken und mittelalterlichen neuplatonischen Philosophie und der theistischen Metaphysik würde ich mich ebenfalls als tief gottgläubig bezeichnen. Auch das Gebet ist sehr wichtig für mich.


    Als Neuplatoniker habe ich insgesamt einen grossen Respekt, Ehrfurcht sowie Faszination für das Christentum (vor allem für den Katholizismus sowie für die byzantinisch-orthodoxen Ostkirchen), für die islamische Sufi-Mystik, für das orthodoxe Judentum, für den vedischen Hinduismus (Bhagavad-Gita!), für den Schamanismus sowie für die alten heidnischen Religionen und Mysterienkulte, beispielsweise bei den den alten Römern.


    Keinesfalls befürworte ich eine äusserliche, synkretistische Vermischung all dieser verschiedenen Traditionen, sondern ich interessiere mich für die gemeinsame innere Essenz. Ich verstehe beispielsweise, weshalb das Christentum die Dreifaltigkeit Gottes betont, genauso, wie der Islam hingegen die Einheit Gottes, des Allbarmherzigen und Allerbarmers, betont. Beides ist nämlich paradoxerweise wahr, genau wie die gleichzeitige Transzendenz UND Immanenz Gottes, die gleichzeitige Einheit in der Vielheit UND Vielheit in der Einheit sowie die gleichzeitige Nondualität UND Individualität Gottes.


    Es mag vielleicht überraschen, aber aus theistisch-neuplatonischer Sichtweise kann ich deshalb sämtlichen obigen Ausführungen von Asperger voll und ganz zustimmen. (Allerdings hätte ich Verständnis dafür, wenn bei einer rein katholischen Sichtweise meine Ausführungen nur Kopfschütteln auslösen sollten. Kein Problem!)



    Einmal erschien mir im Traum eine Vision von der Emanation Gottes: sein ewiges Überströmen und Überquillen hinaus in seine Schöpfung. Es sah aus wie ein wunderschöner, breiter, gewaltiger, in goldenem und orangefarbenen Lichte flutender Wasserfall. Ich fühlte mich von Gottes unerschaffenem Licht und seiner unendlichen Liebe erfüllt.

    Da hast du Recht. Ich hab grad vor ein paar Tage erfahren, dass ein guter Freund, denn ich gute 20 Jahre kenne, auch Asperger hat.
    Aber nur weil ich es ihm gesagt hab.


    Ich glaub, der Grund für die Hetzjagt auf uns ist die Kominatorik und das logische Denken. Wir sehen zu schnell Zusammenhänge, ob es in der Wirtschaft, der Politik oder sonst wo geht. Es ist eigentlich egal, was es ist; Mathematik, Workflowmanagement ...


    Wir sind zwar sozial nicht so integriert oder kommunikativ, aber können hinter die Fasade sehen. Die meisten Menschen jedoch nicht.

    Hinter die Fassade blicken zu können scheint mir - bei aller individueller Verschiedenheit - tatsächlich eine der grundlegenden Eigenschaften zu sein, welche mehr oder weniger die meisten (oder vielleicht sogar alle?) Aspies miteinander gemein haben.


    Man muss es auch einmal positiv sehen: Es gibt wissenschaftliche Studien, wonach AS heutzutage nicht nur wesentlich häufiger erkannt und diagnostiziert wird als früher, sondern dass es abgesehen von dieser Tatsache langsam weltweit wirklich immer mehr Aspies und Autisten gibt (wobei wir Aspies vielleicht endlich einmal die schweren Autisten nicht immer ausschliessen, sondern als unsere "schweigenden" Schwestern und Brüder anerkennen sollten, welche innerlich geistig höhere Fähigkeiten und Einsichten haben als man äusserlich vermuten würde!).


    Wäre es nicht auf eine gewisse Weise wunderbar, wenn Aspies und Autisten, die sich von Natur aus nicht so leicht manipulieren lassen, diese ganze verlogene Welt einfach überschwemmen würden, bis unsere Stimmen nicht mehr zu überhören sind?

    Hallo Aleksander,


    bitte sei nicht traurig!


    Offenbar ist es wahr, dass viele Aspies (Ich möchte langsam mal klären, ob es auf Deutsch offiziell "Aspies" oder "Aspis" geschrieben wird. Gibt es schon einen Duden-Eintrag?) eher zur Melancholie oder gar zu schweren Depressionen neigen, als NTs.


    Ich selber bilde da leider keine Ausnahme. Ratschläge von Psychologen sind (nach meinen Erfahrungen) in der Regel für die Katz. Deswegen habe ich gelernt, selber Strategien zu entwickeln, um mir selbst zu helfen. Wobei ich - offen gestanden - immer noch dran bin, zu lernen... Und immer wieder das Gefühl habe, hoffnungslos zu scheitern, vor allem wenn zusätzlich noch Schwierigkeiten aus der "äusseren Welt" seitens der lieben Mitmenschen über einen hereinbrechen.


    Dieses Tabu-Thema, Asperger und Melancholie, sollte hier unbedingt einmal genauer besprochen werden, jedoch ohne sich an der allgemeinen Schwermut zu berauschen und sich gemeinsam hinabzuziehen, sondern um sich gegenseitig mit positiven und wirksamen Ratschlägen auszutauschen.


    Und in der Zwischenzeit gilt: Kopf hoch, tief durchatmen und den ganzen persönlichen Gedankenmüll an die Vergangenheit und die Zukunft, welcher mehr oder weniger bei jedem Menschen (auch bei den NTs) ununterbrochen im Kopf herumschwirrt, mal versuchen, wenigstens einen Augenblick lang abzustellen.
    Was zählt, ist die absolute Realität: HIER und JETZT!



    Und JETZT brennt mir grad die Frage unter den Nägeln: Aspi, plural: Aspis - oder Aspie/Aspies?
    Was empfiehlt die Forumsleitung?


    Gruss
    Wieland