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    • Offizieller Beitrag

    Gerhard Gaudard: «Ich will normal leben»


    von Sascha Bianchi, Nachhaltigkeitsblog


    Gerhard Gaudard lebte 36 Jahre «als Normaler», obwohl er sich nicht normal fühlte. Sein Leben und seine berufliche Karriere glichen einer Achterbahnfahrt. Dann kam die Diagnose: Asperger-Syndrom. Statt aufzugeben, kämpft sich Gaudard in die Selbstständigkeit zurück und arbeitet heute als IT-Berater bei Swisscom.
    Treffpunkt ist die Cafeteria im Swisscom-Gebäude in Bern Liebefeld: Es herrscht Hochbetrieb. Überall lautes Stimmengewirr. Stühle knirschen, Kaffeemaschinen dröhnen und Telefone klingeln. «Ein denkbar schlechter Treffpunkt», wird Gerhard Gaudard später sagen. Für einen, der Lärm und Menschenmassen nicht verträgt, ist unser Treffpunkt eine Qual. Dass er trotzdem zusagt, zeigt, dass Gaudard willens ist für seinen Traum der Selbstständigkeit seine persönlichen Grenzen zu überwinden.
    Der 42-jährige Gaudard wohnt mit seiner Frau im Emmental und betreibt seit einigen Jahren den Blog Riddler-Gedankenwelt, in dem er über seine Krankheit schreibt. In seiner Freizeit liest er gerne Sachbücher, schaut Dokumentarfilme und spielt auf seiner elektrischen Gitarre. Seit Mitte September arbeitet er bei Swisscom als IT-Berater.
    Gaudard ist modisch gekleidet, freundlich und spricht trotz lärmiger Atmosphäre offen mit uns über seinen Beruf und Herausforderungen im Alltag. Nur sein Blick verrät, dass etwas bei ihm anders ist. In den nächsten 60 Minuten wird uns Gaudard kein einziges Mal direkt in die Augen schauen. «Ich habe einfach kein Bedürfnis, den Menschen in die Augen zu sehen», sagt er.


    Herr Gaudard, was gefällt Ihnen an der Arbeit?
    Dass meine Arbeit einen Sinn ergibt. Ich möchte einen Beitrag leisten. Nicht für mich, sondern für andere. In meinem Fall ist es das Team, in dem ich arbeite, das von meiner Arbeit profitiert. Ich schreibe Software-Programme, die ihnen bei der Arbeit helfen.


    Fällt Ihnen diese Art von Arbeit schwer?
    Zum Teil. Ich denke logisch und erkenne schnell Zusammenhänge und Abhängigkeiten. Das hilft mir im Job. Bei der Software-Entwicklung muss ich aber die Bedürfnisse des Teams sehr genau verstehen, damit sie mein Produkt nachher auch anwenden können. Da ich mich nicht in andere Personen hineinversetzen kann, bereitet mir das grosse Mühe. Ich arbeite daher mit Prototypen. Zuerst erstelle ich Entwürfe und Skizzen und bespreche diese dann mit dem Auftraggeber, um besser zu verstehen, was er oder sie wirklich will. Dabei lerne ich auch viel über die Menschen.


    Was hilft Ihnen bei der Arbeit?
    Ich brauche Routine. Kurzfristige Änderungen und einberufene Termine bedeuten für mich Stress. Deshalb besuche ich heute keine Meetings mehr. Ausserdem brauche ich einen ganz klaren Auftrag, ein klares Ziel. Und ich brauche einen gewissen Freiraum. Ich sehe die Arbeit als meine Show. Ein Chef, der mir immer im Imperativ reinredet? Das geht gar nicht. Früher sorgte das für viele Missverständnisse. Mein Berufsleben war eine Achterbahn, selten war ich für eine längere Zeit an einem Arbeitsplatz. Weil ich die anderen Menschen nicht verstand und nicht wusste, was sie wollten, haben wir oft aneinander vorbeigeredet. Das ist heute anders.


    Arbeiten Sie alleine?
    Ja. Ich arbeite alleine, aber nicht für mich, sondern für andere. Ich sitze auch nicht im stillen Kämmerlein. Im Gegenteil. Wie jeder andere auch sitze ich in einem Grossraumbüro. Und das ist auch richtig so. Ich will nicht isoliert arbeiten, das würde mir gar nicht liegen. Ich sitze bei den anderen, habe das genau gleiche Pult und die gleichen Arbeitsgeräte. Ich habe auch keinen Ordnungsfimmel oder so was in der Art. Das einzige, was bei mir anders ist, ist das Licht. Kunstlicht empfinde ich als störend. Deshalb sitze ich immer im Dunkeln.


    Ein Grossraumbüro? Können Sie dabei arbeiten?
    Ich komme zurecht. Lärm vertrage ich eigentlich nicht sehr gut. Mein Gehör ist sehr empfindlich. Ich kann Gespräche hören, von denen niemand glaubt, dass ich sie hören kann. «Normale» Menschen können andere Geräusche ausblenden. Das kann ich nicht. Bei mir kommt alles zusammen – in der gleichen Lautstärke. Das gute ist, dass mein Arbeitsplatz am Ende eines Ganges liegt. Daher ist es dort meist etwas ruhiger.


    Sie arbeiten jetzt seit rund acht Monaten bei Swisscom. Was war für Sie die grösste Veränderung gegenüber ihrer alten Tätigkeit bei der Stiftung Autismus-Link?
    Ich musste wieder Lernen, in einer Welt mit «Normalen» zu arbeiten. Und dass ich wieder ein einfacher Mitarbeiter bin. Bei meinem damaligen Arbeitgeber waren die meisten anderen Mitarbeitenden Asperger-Betroffene. Die Zusammenarbeit mit Leuten von der Swisscom war daher eine grosse Umstellung. Es brauchte zu Beginn viele Gespräche mit meinem Chef und den Team-Kollegen, damit wir einander besser verstanden. Früher war ich zudem in einer leitenden Funktion tätig und konnte selber mitbestimmen, was ich machen wollte. Jetzt arbeite ich für andere und bekomme Aufträge.


    Was ist Ihre grösste Stärke?
    Viele glauben, dass alle Autisten besondere Fähigkeiten besitzen. Ich habe aber keine Superkräfte und bin auch kein Mathe-Genie. Meine Frau sagt immer, dass meine Willenskraft meine grösste Stärke ist. Als ich die Asperger-Diagnose bekam, war das eine grosse Überraschung für mich. Zuerst musste ich mich selber in die Krankheit einlesen, weil ich sie nicht kannte. Schnell merkte ich, dass ich nicht in die Schublade «Behinderter» gedrängt werden wollte. Mir war es immer wichtig, auf eigenen Füssen zu stehen, selbstständig zu sein. Ich will normal leben. Deshalb wollte ich unbedingt weiterarbeiten. Und zwar im regulären Arbeitsmarkt. Dafür musste ich aber Kompromisse eingehen. Und das habe ich getan.


    Noch immer sind viele Autisten arbeitslos. Welchen Ratschlag können Sie anderen Menschen mit Asperger-Syndrom geben, die auf Jobsuche sind?
    Es gibt heute viele Firmen, die sich im Rahmen von Diversity-Programmen für Menschen mit Asperger engagieren. Ich habe bei Swisscom die Anstellung erhalten, weil ich über die geforderten Fähigkeiten verfügte und Autist bin und nicht, weil ich ein Genie bin. Klar braucht es auch Fachwissen für die Stellen. Aber das ist bei Autisten häufig nicht das Problem, da sie oft über eine Ausbildung verfügen. Ich denke, dass häufig der Wille fehlt, sich anzupassen und Kompromisse einzugehen.


    Swisscom und Inklusion
    Gerhard Gaudard ist der erste Autist, der bei Swisscom eine Festanstellung hat. Zuvor hatte Swisscom bereits einen Lernenden mit Asperger-Syndrom ausgebildet. In Zukunft sollen weitere Menschen mit Asperger bei Swisscom eine Anstellung finden. Rund 1 Prozent der Stellen beim ICT-Unternehmen sind für Menschen mit psychischen oder physischen Einschränkungen reserviert.


    Mehr zu Autismus
    Das Asperger-Syndrom ist eine Störung des sogenannten autistischen Spektrums, an dem rund 0,7 Prozent der Kinder leiden. Zusammen mit Erwachsenen gibt es in der Schweiz geschätzte 50 000 Betroffene. Autistische Störungen können ganz unterschiedliche Ausprägungen haben und werden vom Umfeld der Betroffenen oder auch der Person selbst oft erst spät erkannt. Menschen mit einer Störung aus dem Autismus-Spektrum nehmen ihre Umwelt anders wahr. Sie können sich nur mit Mühe in andere Menschen einfühlen und adäquat mit ihnen kommunizieren. Die Ursachen von Autismus-Spektrum- Störungen sind bis heute nicht vollständig geklärt.


    Hier der Link dazu

    AS ist keine Behinderung und keine Krankheit, sondern eine Besonderheit, die man als Chance nutzen soll.


    Liebe Gruess Sunny :winke:

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