Artikel: Gefühlsansteckung bei der Wahrnehmung von Schmerzen anderer bei ASS intakt

  • Der Artikel wurde am 14.1.2014 in Nature Online publiziert:


    Andere in ihrem Schmerz wahrzunehmen, führt im Allgemeinen zu einer Gefühlsansteckung und somit zu adaptivem Sozialverhalten, zu empathischer Sorge, welche sowohl aus emotionalen wie auch aus kognitiven Prozessen besteht. Bislang wurde angenommen, dass die Defizite an Gefühlsansteckung/empathischer Sorge bzw. der Mangel an Einfühlungsvermögen bei ASS zentral sind und wesentlich zu den sozialen Schwierigkeiten beitragen.


    Wissenschaftler legen nun eine Studie vor, welche diese Annahme widerlegt: Bei der Studie zeigten beide untersuchten Gruppen (NA, ASS) ähnliche Aktivierungsniveaus in den beteiligten (Gehirn-) Bereichen, die mit den empathischen Prozessen und dem Einfühlungsvermögen korreliert sind. Unterschiede fanden sich bei der kognitiven Verarbeitung, die ausschliesslich bei der Gruppe ASS mit einer erhöhten Aufarbeitung/Neubeurteilung einherging.


    Die Befunde zeigen, dass die empathische Prozesse bei ASS erhalten sind, gleichzeitig aber eine erhöhte kognitive Aufarbeitung stattfindet, wahrscheinlich, um die eigene Übererregung zu überwinden. Die erhöhte kognitive Aufarbeitung führt zu einem Ausfall des entsprechenden fürsorglichen Verhaltens und damit zu Schwierigkeiten im sozialen Umgang.


    Die Ergebnisse legen entsprechend nahe, so die Wissenschaftler, dass viel eher als ein globales Defizit an Empathie der mangelnde Austausch von empathischem Verhalten bei ASS zu Schwierigkeiten im sozialen Umgang führt. Weitere Studien ähnlicher emotionaler und kognitiver Prozesse sollen ein noch besseres Verständnis von ASS ermöglichen.


    Link zum Originalartikel: Emotional contagion for pain is intact in autism spectrum disorders (Nature: 14.1.2014):
    http://www.nature.com/tp/journal/v4/n1/full/tp2013113a.html


    Link zum Begriff "Gefühlsansteckung" auf Wikipedia:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Gef%C3%BChlsansteckung



    Grüsse, Satu

    • Offizieller Beitrag

    Wissenschaftler legen nun eine Studie vor, welche diese Annahme widerlegt: Bei der Studie zeigten beide untersuchten Gruppen (NA, ASS) ähnliche Aktivierungsniveaus in den beteiligten (Gehirn-) Bereichen, die mit den empathischen Prozessen und dem Einfühlungsvermögen korreliert sind. Unterschiede fanden sich bei der kognitiven Verarbeitung, die ausschliesslich bei der Gruppe ASS mit einer erhöhten Aufarbeitung/Neubeurteilung einherging.


    Danke für den spannenden Beitrag. Das Stichwort in der Neurowissenschaft heisst hier: Spiegelneuronen.
    Die Spiegelneuronen wurden 1995 von dem italienischen Neuropsychologen G. Rizzolatti und seinem Team entdeckt. Es handelt sich dabei um Nervenzellen (und ein Resonanzsystem), durch die Mitgefühl, Freude und Schmerzen, ausgelöst durch andere Menschen, überhaupt erst entstehen können. Beim Betrachten eines Vorgangs weisen die Spiegelneuronen die gleichen Aktivitätsmuster auf, die entstünden, wenn dieser Vorgang nicht nur passiv betrachtet, sondern aktiv erlebt werden würde. Sie senden demnach schon Signale bei der reinen Beobachtung einer Handlung aus. Die Reaktion der Spiegelneuronen ist dann genauso, als wäre die Handlung selbst durchgeführt worden. So kommt es auch dazu, dass wir uns zum Gähnen verleiten lassen, nur weil ein anderer Mensch soeben gegähnt hat oder uns von einem breiten Lächeln anstecken lassen.


    Da wird fleissig geforscht. Eine Annahme ist, dass bei ASS Betroffenen, das Speigelneuronensystem eingeschränkt ist.



    Grüsse


    soleil


  • Das Ergebnis überrascht mich gar nicht.
    Ich weiß, dass ich mitfühle, das aber weniger gut (aber immer besser) deuten (von innerem Aufruhr anderer Ursache unterscheiden) und rüberbringen kann.
    Allerdings muss dabei meine Aufmerksamkeit auf das Ziel gelenkt sein. Ich fühle nicht mit, was ich (weil verschüttet unter zu vielen anderen Infos) nicht bemerke.


    Aber ich freue mich darüber, dass es tatsächlich als Ergebnis erkannt wird.
    Normalerweise wird erwartet, dass wir quasi empathielos sind, und Studien werden so designt, dass das Erwartete heraus kommt.

    Mein natürlicher Zustand ist verträumte Abwesenheit. Seit 45 Jahren lebe ich gegen meine Natur.

  • Liebe Satu


    Vielen Dank für diesen Beitrag.
    Schon immer hatte ich das Gefühl, dass meine Tochter sehr stark mitfühlt (v.A. bei Leuten, die sie gut kennt) und damit überfordert ist. Ging es mir nicht gut, konnte es ihr auch nicht gut gehen...


    Ich weiss nun, dass ich richtig beobachtet habe.


    LG Kate

    Wenn wir einem Menschen helfen wollen, müssen wir an ihn glauben. (Alb. Schweitzer)

  • ... Eine Annahme ist, dass bei ASS Betroffenen, das Speigelneuronensystem eingeschränkt ist.


    Frühere Studien haben immer auf einen Aktivierungsmangel der Spiegelneuronen, die bei vielen Hirnaktivitäten beteiligt sind, hingewiesen. Diese Studie belegt aber, dass eben kein Aktivierungsmangel der Spiegelneuronen bei ASS vorliegt.


    In diesem Sinne widerlegt die vorliegende Studie bisherige und stellt dar, dass die Gefühlsansteckung (u.a. Aktivierung der Spiegelneuronen) bei ASS intakt ist.


    De Facto sind nicht nur die Spiegelneuronen an den Verarbeitungsprozessen beteiligt. Parallel zur emotionalen Ansteckung basierend auf der Wahrnehmung wird eine emotionale Verarbeitung im Hypothalamus, der Amygdala, dem Hippocampus sowie dem OFC (orbito frontaler Cortex) initiert. Beide Prozesse, die emotionale Ansteckung sowie die Verarbeitung sind zentral für die emotionale Sorge.


    Im Gegensatz zur emotionalen Sorge bzw. dem Einfühlungsvermögen ist die kognitive Aufarbeitung mit dem Emotionsverständnis verwandt und erfordert eine gewisse Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen und zu mentalisieren. Deshalb kann dieser Vorgang auch als TOM (Theory od mind) verstanden werden.


    Andere Hypothesen: Es gibt beispielsweise auch die Hypothese einer unzureichenden Entwicklung von Verbindungen zwischen fernen Hirnarealen (v.a. zum Frontallappen), die je nach Wirkungsweise verschiedener neurobiologischer Faktoren unterschiedliche Gehirnareale betreffen und damit die Vielfalt der Symptomatik autistischer Störungen verursachen (mit/ohne Sprache, mit/ohne mentale Retardierung, fehlende vs. auffällige soziale Interaktion etc.). Geschwind & Levitt (2007).




    Aber ich freue mich darüber, dass es tatsächlich als Ergebnis erkannt wird.
    Normalerweise wird erwartet, dass wir quasi empathielos sind, und Studien werden so designt, dass das Erwartete heraus kommt.



    Das ist der grund, warum ich mich auch gefreut habe.




    Schon immer hatte ich das Gefühl, dass meine Tochter sehr stark mitfühlt (v.A. bei Leuten, die sie gut kennt) und damit überfordert ist.



    Ich habe auch immer sehr stark mit mir nahe stehenden Personen mitgefühlt und mache das auch heute noch. Ich denke, dass ich heute nicht weniger überfordert bin, mir aber genug Strategien zurechtgelegt habe, um damit umzugehen.


    Grüsse, Satu

    • Offizieller Beitrag

    Frühere Studien haben immer auf einen Aktivierungsmangel der Spiegelneuronen, die bei vielen Hirnaktivitäten beteiligt sind, hingewiesen. Diese Studie belegt aber, dass eben kein Aktivierungsmangel der Spiegelneuronen bei ASS vorliegt.


    In diesem Sinne widerlegt die vorliegende Studie bisherige und stellt dar, dass die Gefühlsansteckung (u.a. Aktivierung der Spiegelneuronen) bei ASS intakt ist.


    Das kann ich gut nachvollziehen aus meinen Erfahrungen mit AS. Es ist wohl eher so, dass die Verarbeitung und Kommunikation der angekommenen Wahrnehmungen anders verläuft.


    Grüsse


    soleil

  • Mitfühlen kann ich sehr gut, aber dem Mitgefühl Ausdruck geben sehr schlecht. Man merkt mir Mitgefühl nicht an, denn ich stehe solchen Mitgefühlssituationen oft nur dumm schauend und tatenlos gegenüber, irgendwie wie gelähmt. Es ist so als wäre das Gehirn so mit Gefühlen beschäftigt, dass es nicht noch zusätzlich den Körper steuern kann.
    Habe auch Schwierigkeiten in überraschenden Notsituationen das richtige zu tun,...zum Glück hat sich noch nie eine wirklich schwerwiegende Situation ergeben.
    Was Todesfall und Beerdigungen anbelangt habe ich mir schon die nötigen Strategien und Gefühlsausdrücke zurechtgelegt. Da sind die Menschen sehr beleidigt, wenn man dies nicht kann.

  • Gefühle sind ja nicht autonom bzw. nicht vom Gesamtsystem separiert. D.h. eben, auch wenn die Spiegelneuronen gut arbeiten, kommt es dadurch allein nicht zum Gefühlsempfinden. Das selbe ist es auch bei anderen Sinnen, wie dem Auge. Wenn diese Signale nicht kognitiv weiterverarbeitet werden (können), ist man eben trotzdem "blind".
    Wahrscheinlich ist das bei ASS wohl auch der Fall. Damit die Signale der Spiegelneuronen weiterverarbeitet werden können, müssen offensichtlich bei diesen Menschen die kognitiven Areale stärker arbeiten, um dem ganzen auch ein Gefühl zu geben.


    Hinzu kommt, dass man nichts von/für andere empfinden kann, was man selbst noch nicht empfunden hat. Die höhere Aktivität der kognitven Areale könnte ggfs. genau dadurch zustande kommen, dass bei fehlenden Vergleichsituationen stärker die empfangenen Signale der Spiegelneuronen aufbereitet werden müssen als sonst.


    Ich sehe das als die Fähigkeit des Emotionsverständnis an. Wenn jemand z.B. traurig ist, kann ich nicht mitempfinden, solange ich nicht den Grund dafür weis. Um diesen herauszufinden arbeite ich rein kognitiv, in dem ich das Gesehene mit bereits selbst erlebten vergleiche. Aber wenn es dazu nichts selbst erlebtes gibt, wird es sicherlich auch zu keinem Mitempfinden kommen.
    Ich habe z.B. noch nie einen mir besonders wichtigen Menschen verloren, also weiß ich nicht den Grund, warum man bei Beerdigungen traurig sein soll. Es fehlt hier einfach die Assoziation zwischen dem Gefühl "Trauer" und der Situation "Beerdigung".


    Mich wundert diese Feststellung also nicht wirklich. Wäre auch zu einfach gewesen, das alles nur auf fehlende Spiegelneuronenaktivität herabsetzen zu können.

  • Seit ich den Artikel gelesen habe, frage ich mich, wie "unser" (Nicht-) Verhalten zustande kommen könnte:


    Die Reaktion bei NA ist, wie im Artikel beschrieben, eine emotionale Gefühlsansteckung bei gleichzeitiger, stressfreier kognitiver Aufarbeitung und einem, daraus resultierenden, empathischen Verhalten. Unsere Reaktion umfasst die intakte emotionale Gefühlsansteckung bei gleichzeitigem Stress durch die eigene Übererregung. Hierfür nehme ich jetzt mal folgende Faktoren an:

    • Probleme, ein Gefühl sofort zu identifizieren,
    • Damit verbunden die Schwierigkeit, Gefühle zu benennen,
    • Probleme werden verstärkt, wenn verschiedene Gefühle gleichzeitig auftreten,
    • Probleme, vorhandene Emotionen zu regulieren,
    • Intensive emotionale Reaktion.

    Durch die intensive emotionale Reaktion (Gefühlsoverload/zu viele emotionale Details) kommt es zur Übererregung = Stress. Als Mensch reagieren wir – meist vollkommen unbewusst und automatisch – mit einem von drei Reflexen: Kampf, Flucht oder Erstarren.

    • Flucht: Wenn die Situation sehr belastend ist, kann der Mensch flüchten bzw. sich zurückziehen.
    • Kampf: Wenn die Situation sehr belastend ist, kann der Mensch kämpfen bzw. angreifen.
    • Erstarren: Wenn die Situation sehr belastend ist, aber weder die Notwendigkeit oder Gelegenheit besteht, zu fliehen oder zu kämpfen, bleibt noch die Möglichkeit, dem Stress bzw. der dadurch verursachten inneren "Bedrohung durch Gefühlsoverload", durch "Erstarren" zu entkommen.
    • Resultierend daraus dann die Probleme, Gefühle zu zeigen bzw. auszutauschen.

    Oder wie Schmutzteufel es formuliert:

    Man merkt mir Mitgefühl nicht an, denn ich stehe solchen Mitgefühlssituationen oft nur dumm schauend und tatenlos gegenüber, irgendwie wie gelähmt.


    Die Situation wird vermutlich, egal wie die Reaktion ausgefallen ist, wegen des durchgestandenen Stresses als stark belastend gespeichert werden. Hinzu kommt der Mechanismus des Gehirns, stressige Erfahrungen zu fragmentieren, zu zersplittern. Falls dies geschieht, werden die Splitter wiederum nicht kognitiv verarbeitet, so dass das Ereignis zunächst nicht mehr ohne weiteres zusammenhängend wahrgenommen und erinnert werden kann.


    Und dies könnte einerseits der Grund dafür sein, dass bei der nächsten Situation eben wieder ein emotionaler Overload und eine Überforderung entsteht. Andererseits würde dies auch erklären, warum Situationen auch anders gehandhabt werden können, wenn sie bekannt sind und die Empfindungen "einzeln" wahrgenommen und wieder "zusammengesetzt" = bewusst kognitiv aufgearbeitet = defragmentiert werden. (?)


    Fortsetzung folgt:

  • Die kognitive Aufarbeitung ist, wie im Artikel beschrieben, mit dem Emotionsverständnis verwandt und erfordert eine gewisse Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen und zu mentalisieren. Deshalb kann dieser Vorgang auch als TOM (Theory od mind) verstanden werden.


    Hinzu kommt, dass man nichts von/für andere empfinden kann, was man selbst noch nicht empfunden hat.


    Die Frage ist, ob wir tatsächlich so viele Gefühle noch nicht empfunden haben oder sie ggf. nicht wahrhaben = fragmentiert haben, weil es sonst zu einem Overload gekommen wäre?



    Aber wenn es dazu nichts selbst erlebtes gibt, wird es sicherlich auch zu keinem Mitempfinden kommen.


    Und hier stellt sich die Frage: Ist der Austausch von empathischem Verhalten tatsächlich abhängig vom Erlebtem? Oder kann der Umgang mit dem emotionale Overload und die kognitive Aufarbeitung in Situationen, die nicht selbst erlebt wurden, anhand von theoretischen (imaginären) Beispielen verändert werden, so dass die Fähigkeit erworben wird, verschiedenen Perspektiven einzunehmen und zu mentalisieren? Oder kann der Austausch von empathischem Verhalten nur durch die Konditionierung des Verhaltens, durch das Erlernen von Strategien kompensiert werden?



    Grüsse, Satu

  • Die bewusste Verarbeitung übersteuert sehr leicht die Gefühlsansteckung. Längst bin ich entweder bei der Lösung, oder bei der Erkenntnis, dass ich nichts beitragen kann.


    Kürzlich starb eine meiner Tanten. Zuvor hatte ich bereits von der rätselhaften Krankheit erfahren, an der sie litt und dass versucht werde den Erreger zu identifizieren. Sofort kam die Überlegung, dass mann dann ja mit allem rechnen müsste, selbst mit dem Tod. Natürlich wäre es unangebracht, solche Gedangen gegenüber dem Witwer zu äussern. Und so strenge ich wiederum die bewusste Verarbeitung um mir etwas passenderes einfallen zu lassen und dass ich eigentlich lügen muss und also behaupte, das Ereignis hätte mich sehr überrascht, ich hätte nicht mit dem Tod gerechnet usw.
    Aber all dies, oder jedenfalls das meiste, ist reine bewusste Verarbeitung.


    Andererseits gehen manchmal gewisse Emotionen durchaus direkt auf mich über. Doch ich musste lernen, dass das noch längst nicht heisst, auch den Grund für die Emotion zu verstehen, geschweige denn passend zu reagieren. Jedoch konnte es gelingen, mich auf diese Weise in eine Art Gefängnis zu stecken. Breche ich aus diesem Gefängnis aus, oder wehre ich mich dagegen darin eingesperrt zu werden, kann ich extrem eisig und hart erscheinen.

  • Die bewusste Verarbeitung übersteuert sehr leicht die Gefühlsansteckung. Längst bin ich entweder bei der Lösung, oder bei der Erkenntnis, dass ich nichts beitragen kann.


    Das kann ich gut nachvollziehen. Bei mir ist das auch so.
    Mir ging es beispielsweise so, als meine Mutter (1986) gestorben ist. Als der Arzt mit uns sprach, war mir klar, dass sie bald sterben würde und akzeptierte das auch sofort als Tatsache. Ich konnte weder die Fakten verdrängen noch daran "glauben", dass es ihr bald besser gehen könnte. Als ich darüber sprechen wollte, wurde ich von einigen meiner Familie als "kaltherzig" betitelt. Aber mir hätte es in dieser Situation geholfen, wenn sich alle an die Tatsachen/Fakten gehalten hätten. Jetzt mache ich es bewusst so wie Du und versuche, mir kompatible Sätze zurechtzulegen und nicht mehr auf die Fakten hinzuweisen.



    Doch ich musste lernen, dass das noch längst nicht heisst, auch den Grund für die Emotion zu verstehen, geschweige denn passend zu reagieren.


    Auch wenn ich mit mir nahe stehenden Personen mitfühlen kann, habe ich mir auch für diese Situationen inzwischen bewusst Strategien zurechtgelegt. Ich denke, ich verstehe manchmal den Grund, warum ich mitfühle, beispielsweise wenn ich eine bestimmte Situation auch schon erlebt habe. Andererseits habe ich in solchen Situationen auch manchmal den Eindruck, "in einem Strudel nicht auseinanderzuhaltender Emotionen" zu geraten und bin dann schnell überfordert, weil ich sie eben nicht verstehe bzw. logisch erklären kann. Das ist auch der Grund, warum ich über das Thema weiter nachgedacht und die Fragen gestellt habe..


    Grüsse, Satu

  • Die Frage ist, ob wir tatsächlich so viele Gefühle noch nicht empfunden haben oder sie ggf. nicht wahrhaben = fragmentiert haben, weil es sonst zu einem Overload gekommen wäre?

    Hier habe ich mich schlecht ausgedrückt. Ich meinte, dass man nichts empfinden kann, wenn man keinen Bezug zwischen aktueller Situation und dem allgemein-sozialen Gefühl (was die Gesellschaft dabei eben allgemein fühlt) herstellen kann. Das Gehirn arbeitet ja in jeder Hinsicht assoziativ; d.h. eine Situation wird mit einem Gefühl oder eine Sache wird mit einer anderen Sache verbunden (assoziiert). So wird der Apfel i.d.R. mit einem Apfelbaum und mit dem Geschmacksgefühl "Süß" bis "Sauer" und mit dem Sättigungs-/Hungergefühl verknüpft. Beerdigungen, Verlust und Tod werden normalerweise mit dem Gefühl "Trauer" verknüpft.


    Da aber jede Situation anders als die andere ist, muss das Gehirn die Fähigkeit des Transferierens besitzen. Hierbei spielen die kognitiven Gehirnareale die entscheidende Rolle. So wird eine neue Situation in ihre Einzelteile fragmentiert und mit den Fragmenten alter bereits erlebter Situationen verglichen. Alle Fragmente der neuen Situation, die zu alten Fragmenten passen, werden entsprechend zu den jeweiligen Assoziationen der alten Fragmente wieder neu zusammengesetzt, so dass am Ende die neue Sitatuon als Ganzes mit bestimmten alten Assoziationen versehen ist und nun "neu" bewertet werden kann.


    Beispiel: Als Kind wurde man von einem Mann mit rot-grau gestreifter Weste nachts heftigst geschlagen; dabei bekam man Todesangst. Als Erwachsener begegnet man einer Frau tagsüber mit einer rot-grau gestreiften Weste und bekommt scheinbar grundlos Todesangst. Die Situation mit der Frau ist gänzlich neu, aber das eine alte Fragmet der rot-grau gestreiften Weste stimmte mit der alten Situation überein, daher folgte in der neuen Situation die Assoziation mit dem Gefühl der Todesangst.


    Die Gefühle sind also i.d.R. alle da. Ich bin der Auffassung, dass Gefühle vererbt werden, das Gefühlsleben selbst sich aber eben durch Erlebnisse und später durchs Vergleichen mit Erlebtem entwickelt. In wie weit man dann mitempfinden kann, hängt stark davon ab, mit welchem Gefühl man jeweiliges Situationsfragment assoziiert hat.


    Da Autisten generell keine oder kaum eine Gesamtwahrnehmung, sondern eher eine Detailwahrnehmung besitzen, könnte es durchaus sein, dass NT in einer neuen Situation diese weniger detailiert mit älteren vergleichen (= weniger kognitive Arbeit) als Autisten. Somit führt bei Autisten die rot-grau gestreifte Weste allein nicht zur Todesangst, weil diese der Frau z.B. ein anderes Streifenmuster aufweist als die des Mannes aus der Erinnerung.


    Zitat von Satu

    Ist der Austausch von empathischem Verhalten tatsächlich abhängig vom Erlebtem?

    Ja, aber auch davon, wie man nun Gefühle/Empathie mit zuvor Erlebtem assoziiert hatte.


    Zitat von Satu

    Oder kann der Umgang mit dem emotionale Overload und die kognitive Aufarbeitung in Situationen, die nicht selbst erlebt wurden, anhand von theoretischen (imaginären) Beispielen verändert werden, so dass die Fähigkeit erworben wird, verschiedenen Perspektiven einzunehmen und zu mentalisieren?

    Definitiv nein. Mit theoretischen Beispielen allein kann das Gehirn nichts anfangen, denn es muss diese irgendwie schematisch irgendwo einordnen bzw. ab-/vergleichen können. Kannst du denn mit imaginären Bildern von der 4. Dimensionen diese auch wahrhaftig erfassen? Denke wohl nicht. Was funktioniert, sind praktische Beispiele. Das funktioniert im Kindesalter (Nachahmung) aber auch nur mit dem "TrialByError"-Prinzip. Dabei entscheiden Grundgefühle, ob Erfolg oder Misserfolg. Später eben auch mit dem Vergleichen mit Erlebten und Assoziationen dazu.


    Zitat von Satu

    Oder kann der Austausch von empathischem Verhalten nur durch die Konditionierung des Verhaltens, durch das Erlernen von Strategien kompensiert werden?

    Meiner Meinung nach, ja.

    Einmal editiert, zuletzt von SavAntin ()

  • Da aber jede Situation anders als die andere ist, muss das Gehirn die Fähigkeit des Transferierens besitzen. Hierbei spielen die kognitiven Gehirnareale die entscheidende Rolle. So wird eine neue Situation in ihre Einzelteile fragmentiert und mit den Fragmenten alter bereits erlebter Situationen verglichen. Alle Fragmente der neuen Situation, die zu alten Fragmenten passen, werden entsprechend zu den jeweiligen Assoziationen der alten Fragmente wieder neu zusammengesetzt, so dass am Ende die neue Sitatuon als Ganzes mit bestimmten alten Assoziationen versehen ist und nun "neu" bewertet werden kann.


    Ja, das sehe ich auch so (vgl. oben).



    Mit theoretischen Beispielen allein kann das Gehirn nichts anfangen, denn es muss diese irgendwie schematisch irgendwo einordnen bzw. ab-/vergleichen können. Kannst du denn mit imaginären Bildern von der 4. Dimensionen diese auch wahrhaftig erfassen?


    Ich denke, dass das Gefühlsleben einerseits durch Erlebnisse und den späteren Abgleich mit schon Erlebtem entwickelt und ständig angepasst wird, andererseits aber auch durch imaginäre Bilder weiterentwickelt, "korrigiert" oder auch ersetzt werden kann.


    Beispiel: Nachts hat man ständig denselben Albtraum, in dem man aus den Wolken fällt und nirgends landet; dabei fühlt man sich hilflos, ausgeliefert und bekommt Todesangst. Wenn es nun gelingt, sich regelmässig beim Aufwachen vorzustellen, dass man statt ins Leere auf eine andere, tragfähige Wolke fällt, denke ich, dass sich daraus ein inneres Bild entwickeln kann, in dem man sich nicht mehr hilflos und ausgeliefert fühlt und deshalb zu Tode geängstigt ist. Durch das positive innere Bild (landen auf der tragfähigen Wolke) kann ein inneres (imaginäres) Gegenbild zum Albtraum entstehen, wodurch dieser an Grauen verliert. Ich denke natürlich nicht, dass das eine Sache "von heute auf morgen" ist, sondern gehe davon aus, dass ein solcher Prozess sehr viel Zeit braucht.


    Dein Beispiel mit der "rot-grau gestreiften Weste" kann ich gut nachvollziehen und denke auch, dass die Detailwahrnehmung manchmal "Schutz" bieten kann. Dieselbe Detailwahrnehmung kann allerdings, denke ich, auch ein Nachteil sein: Beispielsweise könnte es durchaus sein, dass Autisten beispielsweise ein Geräusch, welches sie mit schlechten Erfahrungen assozieren, viel eher wahrnehmen (heraushören) als NTs und ggf. dann schneller Todesangst kriegen.


    Grüsse, Satu

  • Da Autisten generell keine oder kaum eine Gesamtwahrnehmung, sondern eher eine Detailwahrnehmung besitzen, könnte es durchaus sein, dass NT in einer neuen Situation diese weniger detailiert mit älteren vergleichen (= weniger kognitive Arbeit) als Autisten. Somit führt bei Autisten die rot-grau gestreifte Weste allein nicht zur Todesangst, weil diese der Frau z.B. ein anderes Streifenmuster aufweist als die des Mannes aus der Erinnerung.


    Finde diese Überlegung sehr spannend. Wenn ich die Reaktionen von meinem Parnter (AS) und mir (NT) vergleiche, habe ich immer wieder den Eindruck, dass er weniger Heuristiken in der Wahrnehmung und Interpretation benutzt. Heuristiken sind Abkürzungen der Verarbeitung, wodurch die Interpretation einfacher, dafür schneller jedoch auch oberflächlicher wird. Z. B. verwende ich häufig die Heuristik "Halte Dich an Experten" oder "Halte Dich an den ersten Eindruck". Mein Partner verwendet diese Heuristiken eher nicht. ist dadurch vorurteilsfreier, dadurch genauer, dafür auch langsamer und teilweise von der Informationsflut seiner Wahrnehmung im Moment überfordert.

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