(…) ein Gleichnis [Nachtrag des Editors: vom verlorenen und wiedergefundenen
Schaf, Lukas, 15]:
Stellt euch einen Hirten vor, der hundert Schafe hat, und
wie wenig es braucht, um im Bergland von Galiläa beim Herdendurchtrieb eines
der Tiere zu verlieren. Er zählt sie am Abend durch und vermisst er eines, wird
er, solang die Sonne noch am Himmel steht, den Weg zurückgehen, um das
Verlorene zu suchen, weiss er doch, dass kein Schaf freiwillig von den anderen
wegläuft. Aber in Minuten kann es geschehen, dass hinter einem Bergvorsprung
der Sichtkontakt zu den anderen blockiert wird und wenig später der akustische
Kontakt. Und dass ein Schaf gar nicht anders kann, als sich hinzuhocken und
kläglich um Hilfe zu blöken, die nicht kommen will, allenfalls, dass sich die
Beutegreifer sammeln. Käme nicht der Hirte – weil es sich verloren hat –, wäre
es verloren. Und bitte schön, meint Jesus, jetzt überträgt das auch auf Gott
und auf euch selber.
Gott hat den Menschen nicht erschaffen, um sie verloren zu
geben und sich noch gut dabei zu fühlen, dass man den Stab jetzt über die
sogenannten Sünder hat brechen können. So ist Gott nicht, und so haben wir auch
wir Menschen untereinander (…) überhaupt kein gutes Recht, miteinander so
umzugehen. Je weiter ein Mensch sich von uns entfernt hat, desto mehr müssen
wir uns vielmehr auf die Beine machen und ihn suchen gehen. Oft haben wir keine
Ahnung, wo der andere sich befindet, und wie viele Jahre mag es dauern, bis wir
endlich begreifen, was passiert ist, womöglich als er noch ein kleines Kind
war. Und wie sein ganzes Leben gestaltet wurde durch bestimmte Einflüsse und
Traumata, die ihm selber nicht bewusst sind.
Psychoanalyse ist ein Verfahren, so ins Unbewusste zu loten,
dass es sich durch Nacharbeit ins Bewusstsein integriert. Aber die
entscheidende Bedingung ist in den zahlreichen Theoriebildungen fast immer
wieder untergegangen: Menschen können eigentlich nur wahrhaftig werden durch
ein Vertrauen, nicht verurteilt zu werden. Und das ist die Bedingung,- nennen
wir es die jesuanische Evidenz. Denn der Mann aus Nazaret kam nicht, um eine
neue Religion zu gründen, um eine neue Institution einzurichten, er kam, um
unser Leben zu ändern – von Angst zu Vertrauen, von Gewalt zu Güte, vom
Verurteilen zum Verstehen.
ps: alles abgeschrieben aus „Wozu Religion? Antworten auf
Grundfragen des Lebens“ von Eugen Drewermann